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Cancel-Culture an der ETH:
Ein Professor erhält Morddrohungen wegen einer Vorlesungsfolie

Von Jonas Roth
12.03.2022, 05.30 Uhr

Chinesische Studenten stoßen sich an einer Folie des ETH-Professors Dirk Helbing und verbreiten sie im Internet. Es folgt ein Shitstorm, Helbing wird Rassismus vorgeworfen. Eine Aufarbeitung. Das Hauptgebäude der ETH Zürich, einer der renommiertesten Hochschulen der Welt. An der Universität studieren auch zahlreiche Personen aus China.
Christian Beutler / Keystone

"Das passiert, wenn man sich für Menschenwürde und Demokratie im digitalen Zeitalter einsetzt", schreibt der ETH-Professor Dirk Helbing am 26. Februar auf Twitter. Dazu postet er ein Foto einer verstörenden Mail, die er erhalten hat: "Du bist zum Sterben verurteilt, ich töte dich und deine Familie", steht da, neben anderen Kraftausdrücken. Zwei Tage später erhält Helbing eine weitere Morddrohung, die er ebenfalls auf Twitter teilt.

Es sind nicht die einzigen Anfeindungen, die Helbing in den vergangenen Wochen erreicht haben. In den sozialen Netzwerken finden sich Hunderte von Kommentaren, in denen vorwiegend chinesische User dem Professor Rassismus und Diskriminierung vorwerfen - ein veritabler Shitstorm. Was ist geschehen?

"Die Versuchung von unangebrachten Verallgemeinerungen"

Dirk Helbing ist Professor für computergestützte Sozialwissenschaften an der ETH. Am 21. Februar hält er eine Vorlesung zum Thema "Digitale Gesellschaft"; es geht um die Vereinbarkeit von Algorithmen mit dem Prinzip der Menschenwürde.

Helbing will seine Klasse darauf aufmerksam machen, dass man Menschen nicht wie Datensätze behandeln solle. Das chinesische Social-Credit-System, auch Citizen-Score genannt, dient ihm als Beispiel dafür. Es handelt sich dabei um ein datenbasiertes System, das Anreize für die Einhaltung von Gesetzen und Regeln schaffen soll. Kritikern gilt der Citizen-Score als Mittel zur Überwachung der chinesischen Bürger.

An dieser Präsentationsfolie stören sich chinesische Studenten.
Linkedin

Laut dem Transkript der Vorlesung, das der NZZ vorliegt, äußert sich der Professor wie folgt: "Ein für Teilchen konzipierter Algorithmus kann schnell angepasst werden, um die Aufzucht von Hühnern und Schweinen zu organisieren. Man kann ihn benutzen, um Terroristen zu finden. Vielleicht würde man ihn auch auf Kriminelle, Arbeitslose oder auf alle Menschen, wie beim chinesischen Citizen-Score, anwenden. Am Ende würde jeder so behandelt, wie es Algorithmen vorschlagen, wobei diese aber nicht unbedingt die menschliche Würde berücksichtigen, richtig?"

Um seine Ausführungen zu illustrieren, präsentiert Helbing eine Folie mit dem Titel "Die Versuchung von unangebrachten Verallgemeinerungen". Neben einem Foto von Schweinen listet er stichwortartig auf: "Hühner, Schweine? Terroristen? Kriminelle? Arbeitslose? Chinesen? Alle?"

Rasch verbreitet sich die Folie in den sozialen Netzwerken - ohne den Kontext von Helbings Erläuterungen in der Vorlesung. Chinesische Studenten sehen darin eine Gleichsetzung von Chinesen mit Schweinen, Kriminellen und Terroristen. Er sei "schockiert, wütend, enttäuscht und traurig", schreibt ein Student auf der Plattform Linkedin, der laut seinem Profil an der ETH studiert. Die Folie sei "voll von Rassismus" und "total inakzeptabel". Der Student versieht seinen Post mit dem Hashtag #asianhate (Asiaten-Hass).

Dieser Post allein erhält fast 2000 Likes und mehr als 400 Kommentare. Viele werfen dem Professor Rassismus vor, einige fordern seinen Rücktritt oder seine Entlassung.

Auf Anfrage der NZZ schreibt Helbing, dass die Studierenden weder während der Vorlesung noch unmittelbar danach bei ihm Kritik geäußert oder um eine Entschuldigung gebeten hätten.

Eine anonyme "Gruppe von Freiwilligen"

Drei Tage nach der Vorlesung reagiert Helbing auf die Vorwürfe. Es tue ihm leid, falls er Gefühle verletzt habe, das sei nicht seine Absicht gewesen, schreibt er in einer Mail an seine Klasse. Gleichentags teilt die ETH Helbings Studenten per Mail mit, sie distanziere sich von der Folie. Die Studenten geben sich damit nicht zufrieden. Eine "Gruppe von Freiwilligen" schaltet am 27. Februar eine Website mit dem Titel "Anti-Rassismus an der ETH Zürich" auf.

Die "Freiwilligen" publizieren einen offenen Brief an die Schulleitung, in dem sie eine "formelle Antwort und weiterführende Massnahmen" verlangen. Der Brief enthält eine Liste von Forderungen, darunter Disziplinarmassnahmen gegen Helbing sowie "obligatorische Anti-Rassismus-Kurse für alle Angestellten der ETH". Nach Angaben der Urheber unterzeichnen bis zum 1. März über 800 Personen "aus der ganzen Welt" den Brief.

Längst hat die Aufregung um Helbing eine groteske Eigendynamik angenommen. Personen ohne ersichtlichen Bezug zur ETH beteiligen sich auf Twitter und Linkedin an der Kampagne gegen Helbing. Ein User der Plattform Reddit weist darauf hin, dass in einem Forum für Auslandchinesen Stimmung gegen den Professor gemacht wird: "Wir müssen das als Gruppe tun", heisse es da. Andere verbreiteten Helbings Folie gezielt in den chinesischen Netzwerken WeChat und Weibo.

Der Rektor reagiert

ETH-Professor Dirk Helbing.
Jannick Timm / CC BY-SA 4.0

Am 28. Februar, drei Stunden nach dem Versand des offenen Briefes, entschuldigt sich Dirk Helbing via Twitter. Seine Entschuldigung schickt er auch per Mail an alle Unterzeichner des offenen Briefes. Er habe realisiert, dass seine Folie als beleidigend interpretiert werden könne; das Material hätte "racially more sensitive" sein sollen. Seinem Schreiben fügt der Professor eine angepasste Version der Folie bei, ohne das Beispiel der "Chinesen".

My apologies! I am really very sorry for what happened. - Dirk Helbing (@DirkHelbing)

Einen Tag später, am 1. März, reagiert ETH-Rektor Günther Dissertori mit einer Replik auf den offenen Brief. "Die Präsentation ist in der Tat unsensibel, und ich kann verstehen, dass Sie sich dadurch persönlich verletzt fühlen", schreibt er. Allerdings habe der Professor glaubhaft versichert, dass das nicht seine Absicht gewesen sei.

Die Initianten des offenen Briefes akzeptieren jetzt die Entschuldigung Helbings. Noch am 1. März löschten sie den Brief sowie alle Erwähnungen Helbings von der Website. Helbing hat sich inzwischen mit den Studentinnen und Studenten seiner Vorlesung ausgetauscht. "Es verlief sehr konstruktiv, wie ich es von der ETH gewohnt bin", schreibt er auf Anfrage.

"Es ist Vertrauen verlorengegangen"

Für die ETH ist die Sache abgeschlossen. Die Veröffentlichung der angepassten Folie und Helbings Entschuldigung setzten "einen Schlusspunkt hinter die in den sozialen Netzwerken unverhältnismässig aggressiv geführte Diskussion", schreibt die Medienstelle. Es handle sich um einen Einzelfall. "Wir haben auch keine Hinweise darauf, dass sich unsere Dozierenden unter Druck gesetzt fühlen." Am 7. März habe der Rektor eine Aussprache mit Angehörigen der asiatischen ETH-Community durchgeführt. Diese sei "respektvoll und konstruktiv" verlaufen.

Für Helbing bleibt ein fahler Nachgeschmack. "Es ist Vertrauen verlorengegangen, dass der Wille eines konstruktiven Miteinanders immer vorausgesetzt werden kann", schreibt er. "Ich habe begonnen, kontroverse Inhalte, auf die Studierende vielleicht sensibel reagieren können, aus den Foliensätzen zu entfernen." Auf die Frage, ob er die Morddrohungen gegen ihn ernst nehme, meint er: "Es wäre unvorsichtig, sie komplett zu ignorieren."


Quelle:


© infos-sachsen / letzte Änderung: - 20.03.2024 - 18:13